Manche Kinder spüren mehr – und reagieren stärker. Ihre Haut erzählt davon.
In der Begleitung von Familien mit neurodermitisbetroffenen Kindern erlebe ich immer wieder: Es gibt Kinder, deren Nervensystem feiner eingestellt ist. Sie reagieren nicht nur intensiver auf Stress, sondern auch besonders empfänglich auf Liebe, Sicherheit und Unterstützung. Ihre Haut ist dabei nicht nur Organ – sie ist Ausdruck. Und genau hier setzt ein faszinierender, wissenschaftlich fundierter Ansatz an: die Vantage-Sensitivität.
Was ist Vantage-Sensitivität? Eine Ressource inmitten von Reizüberflutung
Der britische Psychologe Prof. Dr. Michael Pluess hat gemeinsam mit Jay Belsky 2013 das Konzept der Vantage Sensitivity geprägt. Anders als die oft defizitorientierte Betrachtung von „Hochsensibilität“, beschreibt Vantage-Sensitivität jene Menschen – vor allem Kinder –, die besonders stark von positiven Einflüssen profitieren.
„Vantage Sensitivity refers to individual differences in response to exclusively positive experiences, whereby some people benefit more than others from supportive environments or psychological interventions.“
(Pluess & Belsky, 2013, S. 903)
Diese Kinder brauchen keine permanente Optimierung, sondern Beziehung. Kein ständiges „Was tun?“, sondern ein feinfühliges Da sein.
Wenn Neurodermitis auf ein sensibles Nervensystem trifft
Kinder mit Neurodermitis haben häufig ein erhöhtes Maß an sensorischer Verarbeitungsempfindlichkeit. Ihr Nervensystem reagiert intensiver auf Geräusche, Gerüche, Stimmungen – und ja, auch auf innere Spannungen in der Familie. Diese Kinder sind keine Problemfälle. Sie sind Resonanzwesen.
Und genau darin liegt ein Schatz: Wenn sie in einem fein abgestimmten, sicheren und beziehungsorientierten Umfeld leben, entfalten sie ihre Stärken besonders kraftvoll. Eine Metaanalyse von Slagt et al. (2016) mit 84 Studien zeigt: Hochsensitive Kinder, die feinfühlige Bezugspersonen haben, entwickeln überdurchschnittlich starke schulische und soziale Kompetenzen. Umgekehrt zeigen sich in belastenden Kontexten häufiger Auffälligkeiten – auch körperlich.
Ein Praxisbeispiel: Wenn weniger Kontrolle mehr heilt
Eine Mutter kam mit ihrer siebenjährigen Tochter zu mir. Die Ekzeme des Kindes waren massiv, der Alltag von Kontrolle, Kratzen und Cortison geprägt. Als wir begannen, nicht nur die Haut, sondern auch das emotionale Feld zu betrachten, veränderte sich etwas.
Die Mutter lernte, nicht auf jedes Kratzen zu reagieren. Sie übte, präsent zu sein – beobachtend, mitfühlend, aber nicht eingreifend. Und nach und nach veränderte sich das gesamte System: Die Anspannung ließ nach, die Haut wurde ruhiger, das Miteinander entspannter.
Diese Veränderung war keine Zauberei. Sie war Co-Regulation. Und genau das zeigt die Kraft der Vantage-Sensitivität: Was bei anderen „nett“ ist, wirkt bei diesen Kindern heilsam.
Die vier Sensitivitätstypen – und warum das Eltern entlasten kann
Pluess (2015) unterscheidet vier Sensitivitätstypen:
- Wenig-sensitive Kinder: reagieren kaum – weder auf Positives noch Negatives.
- Vulnerable Sensitivität: stark auf Negatives, kaum auf Positives.
- Generelle Sensitivität: starke Reaktionen auf beides.
- Vantage-Sensitivität: hohe Offenheit für Positives, Resilienz gegenüber Negativem.
Diese Typen sind keine Schubladen – sie sind Entwicklungspfade. Und sie zeigen: Sensitivität ist formbar. Beziehung gestaltet das Nervensystem mit.
Achtsamkeit – der Schlüssel zur Co-Regulation
Studien zeigen, dass Achtsamkeit (z. B. MBSR) bei hochsensitiven Menschen Ängste reduziert, Stress abbaut und Empathie stärkt (Soons et al., 2010). Für Eltern bedeutet das: Ihre eigene Regulation ist die stärkste Intervention für Ihr Kind.
„Das Gehirn eines Kindes braucht ein anderes Gehirn als Gegenüber, um reifen zu können.“
(Joachim Bauer, 2006)
Sie müssen nicht alles wissen – aber anwesend sein. Nicht perfekt – sondern verbunden.
5 Impulse: Wie Sie Vantage-Sensitivität im Alltag fördern
- Feinfühligkeit kultivieren
Spiegeln Sie die Stimmung Ihres Kindes – besonders in sensiblen Momenten. Ein kurzer Blick, ein sanftes Wort wirken oft stärker als jede Ermahnung. - Positive Erfahrungen gestalten
Rituale schaffen Sicherheit. Ein gemeinsamer Spaziergang, Musik, Kuschelzeit – gerade für empfindsame Kinder sind das kleine Inseln der Regulation. - Eigene Achtsamkeit leben
Schon ein paar bewusste Atemzüge am Tag helfen, präsent zu bleiben. Ihre innere Ruhe überträgt sich. - Statt Kontrolle – Orientierung bieten
Ihr Kind braucht keinen ständigen Eingriff. Es braucht liebevolle, klare Führung mit Raum zum Selbsterleben. - Haltung statt Hilflosigkeit
Sehen Sie die Sensitivität Ihres Kindes nicht als „Störung“, sondern als Einladung zur Verbindung.
Checkliste für den Alltag: Bin ich in Resonanz mit meinem Kind?
- Fühlt sich mein Kind heute emotional sicher bei mir?
- Habe ich eher reflexartig oder reflektierend reagiert?
- Gab es Momente echter Verbindung – ohne Ziel, ohne Funktion?
- Konnte ich heute ein stärkendes Erlebnis ermöglichen?
- Habe ich mir selbst Raum für Regulation gegeben?
Diese Fragen sind keine Bewertung. Sie sind Einladung zur Bewusstheit.
Fazit: Weniger tun – mehr da sein
Vantage-Sensitivität ist kein esoterisches Konzept. Sie ist ein neurobiologisch fundierter Entwicklungsweg – besonders wertvoll für Kinder mit Neurodermitis. Ihr Nervensystem ist kein Defizit. Es ist ein feines Instrument – bereit, in der richtigen Umgebung zu erblühen.
Und das bedeutet für Eltern: Sie müssen nicht mehr machen. Sie dürfen mehr wirken. Durch Ihre Präsenz. Durch Ihre Haltung. Durch Beziehung.
Ihr nächster Schritt?
Probieren Sie es aus. Nehmen Sie sich heute drei bewusste Minuten – ganz ohne To-do. Schauen Sie Ihr Kind an. Seien Sie da. Es ist nicht das Tun, das heilt. Es ist das Gesehenwerden.