Neurodermitis und Salutogenese

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Wie sich Gesundheit entwickelt, ist eines der großen Geheimnisse des Lebens. Die Salutogenese versucht, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Der israelische Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky (1923–1994) stellte in den 1970er Jahren eine entscheidende Frage: Was hält Menschen gesund?
Damit drehte er die Perspektive der klassischen Medizin um. Statt nach den Ursachen von Krankheit zu suchen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Faktoren, die Menschen widerstandsfähig und gesund erhalten – selbst unter extremen Bedingungen.

Antonovsky untersuchte Überlebende nationalsozialistischer Konzentrationslager. Er stellte fest, dass es Menschen gab, die trotz unvorstellbarer Leiden in erstaunlich gutem psychischem und körperlichem Zustand waren. Diese Beobachtung widersprach der Annahme, dass schwere Traumatisierung zwangsläufig zu Krankheit führen müsse.
Er fragte sich: Was macht diese Menschen stark?

Seine Antwort lautete: Sie besaßen ein starkes Kohärenzgefühl – ein tiefes Vertrauen in die Stimmigkeit des Lebens.

Das Kohärenzgefühl – ein inneres Vertrauen

Antonovsky beschreibt das Kohärenzgefühl als eine grundlegende Orientierung des Vertrauens. Es ist die Überzeugung, dass das Leben Sinn hat, dass es im Wesentlichen verstehbar und handhabbar ist.
Man könnte auch sagen: Es ist eine moderne Form des Urvertrauens.

Dieses Vertrauen ist keine naive Hoffnung. Es ist ein innerer Zustand, der sich aus Erfahrung bildet – aus wiederholten Momenten, in denen wir spüren, dass wir Herausforderungen bewältigen können. Ein Mensch mit einem starken Kohärenzgefühl erlebt Schwierigkeiten nicht als Untergang, sondern als Teil des Lebensflusses, mit dem man umgehen kann.

Antonovsky beschreibt drei Dimensionen dieses Kohärenzgefühls: Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit.
Diese drei Begriffe sind keine Theorien, sondern Erfahrungsräume. Sie helfen zu verstehen, wie Gesundheit entstehen und erhalten werden kann – auch bei chronischen Erkrankungen wie Neurodermitis.


Verstehbarkeit – die Welt begreifen lernen

Verstehbarkeit bedeutet, einen inneren Zusammenhang zwischen dem, was geschieht, und dem eigenen Erleben herzustellen.
Im Kontext von Neurodermitis heißt das: Eltern versuchen zu verstehen, welche Faktoren die Krankheit beeinflussen – was sie verstärkt und was sie lindert. Dieses Wissen schenkt Orientierung und macht handlungsfähig.

Wenn Eltern begreifen, dass Stress, emotionale Anspannung, unausgesprochene Sorgen und Beziehungsklima den Krankheitsverlauf mitbestimmen, gewinnen sie einen Hebel zurück. Sie erleben, dass sie selbst Teil des Heilungssystems sind. Das schafft Selbstwirksamkeit.

Verstehbarkeit bedeutet also nicht, alles zu erklären, sondern das Wesentliche zu erkennen: Ich kann Einfluss nehmen.Diese Erfahrung verändert den inneren Zustand – weg von Hilflosigkeit, hin zu aktiver Beteiligung.


Sinnhaftigkeit – das Warum des Symptoms

Sinnhaftigkeit fragt nicht nur nach Ursache, sondern nach Bedeutung. Sie öffnet den Raum für die Frage: Was will dieses Symptom mir oder uns zeigen?

Bei Kindern mit Neurodermitis kann die Haut etwas ausdrücken, das noch keine Worte gefunden hat: Überforderung, Spannung, emotionale Hitze, unausgesprochene Konflikte.
Wenn Eltern die Symptome nicht nur als Feind, sondern auch als mögliche Botschaft begreifen, entsteht eine neue Haltung. Sie hören hin, statt zu bekämpfen.

Das bedeutet nicht, Krankheit zu romantisieren. Es heißt, ihr zuzuhören. Denn jede chronische Erkrankung trägt eine Geschichte in sich – und jedes Symptom kann, richtig verstanden, Teil des Weges zur Heilung werden.

Sinnhaftigkeit schafft Verbindung. Sie wandelt das Gefühl der Ohnmacht in ein Gefühl der Beziehung: Etwas in uns will gesehen werden.


Handhabbarkeit – das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit

Handhabbarkeit bedeutet, zu glauben, dass man die Ressourcen hat, um mit Herausforderungen umzugehen. Dieses Vertrauen ist kein Optimismus im oberflächlichen Sinn, sondern eine tiefere Überzeugung, dass es Wege gibt – auch wenn sie noch nicht sichtbar sind.

Eltern, die sich dieser Haltung nähern, vermitteln ihrem Kind eine wichtige Botschaft: Wir schaffen das gemeinsam.
Sie zeigen, dass Schwieriges nicht das Ende, sondern ein Lernprozess ist.
So entsteht Resilienz.

Diese Haltung verändert auch das Nervensystem. Sie aktiviert nicht Kampf oder Flucht, sondern Regulation und Sicherheit. Das Kind spürt, dass es gehalten wird – nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen.


Die salutogenetischen Leitfragen

Aus dieser Haltung ergeben sich zentrale Leitfragen, die Eltern begleiten können:

Wie kann mehr Gesundheit entstehen?
Welche Faktoren unterstützen die Lebendigkeit meines Kindes?
Was braucht es, um sich sicher und wohl zu fühlen?
Wie kann ich dazu beitragen, dass Stress abgebaut und Vertrauen gestärkt wird?

Diese Fragen lenken die Aufmerksamkeit weg vom Defizit hin zur Entwicklung. Es ist hilfreicher zu wissen, wohin man möchte, als nur zu wissen, wo man nicht sein will.
Wer eine Vision von Gesundheit hat, kann sich darauf zubewegen. Salutogenese ist ein Weg der Orientierung, nicht der Kontrolle.

Wenn Eltern den Blick auf das richten, was das Kind stark, neugierig, lebensfroh und kreativ macht, beginnt Gesundheit sich auszubreiten – manchmal leise, fast unmerklich, aber spürbar.


Die Kraft der Haltung

Der Glaube, dass Eltern ihr Kind im Bewältigungsprozess unterstützen können, ist kein Placebo, sondern eine reale Kraft. Kinder reagieren sensibel auf die emotionale Atmosphäre, in der sie leben.
Eine Haltung von Zuversicht und Vertrauen wirkt regulierend. Sie beruhigt die Biochemie, fördert die Ausschüttung von Bindungshormonen und verringert Stress.

Eltern, die trotz der Herausforderungen versuchen, den Blick auf Ressourcen zu richten, schaffen für ihr Kind einen Raum, in dem Heilung überhaupt möglich wird.
Das bedeutet nicht, immer stark sein zu müssen. Es reicht, präsent zu bleiben, immer wieder zurückzukehren zur inneren Haltung: Ich glaube an dein Gesundsein.

Diese Resonanz wirkt tief. Sie vermittelt dem Kind, dass es mehr ist als seine Krankheit. Sie stärkt das Kohärenzgefühl – jenes innere Wissen, dass die Welt Sinn macht, dass sie verstehbar und handhabbar bleibt, auch wenn sie schmerzt.


Gesundheit als Prozess

Die Salutogenese erinnert uns daran, dass Gesundheit kein Zustand ist, sondern ein ständiger Prozess des Werdens.
Man kann ihn nicht erzwingen, aber man kann ihn fördern – durch Bewusstheit, durch Resonanz, durch die Pflege von Sinn, Verstehbarkeit und Vertrauen.

Für Eltern neurodermitiskranker Kinder bedeutet das:
Gesundheit entsteht dort, wo Verständnis wächst, wo Symptome als Botschaften gehört werden, wo das Kind in seiner Ganzheit gesehen und in seiner Lebendigkeit gestärkt wird.

Gesundheit ist kein Ziel, das erreicht werden muss. Sie ist eine Bewegung, die gepflegt werden will – jeden Tag neu, mitten im Fluss des Lebens.

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