Bist du vielleicht eine zu gute Mutter?

Foto

Zu gut für die Welt?  Warum „Too Good Mothering“ Kindern mit Neurodermitis manchmal schadet

Viele Eltern, besonders Mütter, möchten alles richtig machen. Wenn das eigene Baby unter Neurodermitis, Schlafproblemen, viel Schreien oder starkem Klammern leidet, wächst oft der Wunsch, besonders einfühlsam, besonders liebevoll und besonders verfügbar zu sein. Doch manchmal, ganz ohne Absicht, entsteht daraus eine Überfürsorglichkeit, die der Kinderpsychoanalytiker Donald Winnicott in den 60er-Jahren als „too good mothering“ beschrieben hat. Und genau darüber wollen wir sprechen: Was passiert, wenn Eltern zu sehr für ihr Kind da sein wollen? Warum betrifft dieses Muster gerade Familien mit sensiblen, neurodermitisgeplagten Babys? Und wie lässt sich das „gute Maß“ zwischen Nähe und gesunder Abgrenzung finden?

Wenn ein Kind viel weint, schlecht schläft, wenig isst oder häufig Hautschübe bekommt, entsteht bei vielen Müttern eine stille Frage, die sie kaum aussprechen: „Mache ich etwas falsch?“ Aus der Arbeit mit sensiblen Familien weiß ich jedoch: Diese Eltern sind keineswegs weniger kompetent – im Gegenteil. Sie sind besonders aufmerksam, feinfühlig und bemüht. Doch genau diese Feinfühligkeit kann, wenn sie an keine Grenze gebunden ist, in eine Dynamik rutschen, die dem Kind paradoxerweise Stress macht.

Winnicott meinte mit der „good enough mother“ nie, dass Eltern mittelmäßig sein sollen. Er meinte, dass Kinder keine perfekten Eltern brauchen, sondern solche, die genügend Halt geben, ohne sich selbst zu verlieren. „Gut genug“ bedeutet, einfühlsam zu sein, aber nicht überangepasst, präsent zu sein, ohne sich mit dem Kind zu verschmelzen, und unterstützend zu handeln, ohne dem Kind jede eigene Erfahrung abzunehmen. Eltern müssen also nicht jeden Wunsch erahnen, bevor das Kind ihn äußern kann – denn genau dieses Äußern ist ein zentraler Schritt für seine Entwicklung.

Wenn Fürsorge zu viel wird, verliert das Kind die Chance, seine eigene Wirksamkeit zu erleben. Eltern, die „zu gut“ sein wollen, reagieren oft auf jede kleine Regung sofort. Sie füttern, bevor Hunger entsteht, sie beruhigen, bevor das Kind seinen Unmut ausdrücken darf, und sie tragen es, bevor es selbst zur Ruhe finden könnte. Dadurch fehlen dem Kind wichtige kleine Erlebnisse, in denen Gefühle gespürt, benannt und reguliert werden können. Frustration wird vermieden – und damit verlernt. Gleichzeitig entsteht im Inneren des Kindes das Gefühl, im eigenen Erleben eingeschränkt zu sein. Viele beginnen dann, sich innerlich oder äußerlich aufzulehnen: durch Schreien, durch Abwehr, durch Rückzug oder – bei besonders sensiblen Kindern – über die Haut. Neurodermitis wird dann zum sichtbaren Ausdruck eines inneren Konflikts, den das Kind noch nicht anders lösen kann. Wichtig ist dabei: Diese Dynamik ist keine Frage von Schuld. Sie entsteht aus einem zu engen, zu schnellen, zu reagierenden Miteinander, das beide Seiten überfordert.

Besonders gefährdet sind Mütter, die selbst wenig Sicherheit, Fürsorge oder emotionale Präsenz erlebt haben. Viele von ihnen tragen den tiefen Wunsch in sich, alles besser zu machen als früher. Dieses Bedürfnis ist zutiefst menschlich – und doch führt es leicht dazu, dass jede kleine Spannung vermieden, jede Träne augenblicklich getrocknet und jede Regung des Babys sofort ausgeglichen wird. Doch Kinder brauchen kleine Wellen, um schwimmen zu lernen. Eine vollkommen glatte Oberfläche lässt keine Kraft entstehen.

Gerade bei Neurodermitis spielt die Balance zwischen Nähe und Distanz eine zentrale Rolle. Viele Hautschübe treten in der Phase zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat auf – genau dann, wenn Babys ein neues Bewusstsein entwickeln: „Ich bin ich“, „Du bist du“, „Ich kann mich bewegen, greifen, entdecken.“ In dieser Autonomiephase sucht das Kind gleichzeitig Nähe und Abstand. Wenn Eltern – oft aus Sorge oder Übermüdung – zu nah bleiben, bekommt das Kind zu wenig Raum für eigenes Erleben. Die Folge kann ein innerer Nähe-Distanz-Konflikt sein, der sich häufig über die Haut äußert.

Erschwerend kommt hinzu, dass viele Mütter heute kaum Unterstützung haben. Die Kleinfamilie, wenig verfügbare Großeltern, beruflich stark gebundene Partner und der gesellschaftliche Druck, alles alleine zu schaffen, führen dazu, dass Mütter oft keine echten Pausen erleben. Wenn eine Mutter über längere Zeit kaum Schlaf bekommt, nur wenig auf ihre eigenen Bedürfnisse achtet und ohne „trennende Dritte“ auskommen muss, entsteht leicht eine enge Mutter-Kind-Dyade, in der beide Nervensysteme überreizt sind. Das ist niemandes Schuld. Es ist die Situation, die eine solche Enge fast zwangsläufig erzeugt.

Was Kindern ab etwa sechs Monaten wirklich hilft, ist Raum für Selbstwahrnehmung. Sobald ein Baby beginnt, seine Hände, Füße, Stimme und sein inneres Erleben bewusst wahrzunehmen, wächst auch seine Fähigkeit, eigene Impulse zu erkennen und zu regulieren. Hat es in den ersten Monaten eine sichere Bindung erfahren, darf es nun Gefühle ausdrücken, Frust erleben, kleine Wartezeiten aushalten, Nähe einfordern und auch Rückzug erleben. Und Eltern dürfen lernen, nicht sofort alles auszugleichen, sondern dem Kind etwas mehr Zeit zu lassen, seine Signale selbst zu senden. Sie dürfen Raum geben, ohne das Kind alleine zu lassen, und zugleich ihren eigenen Rhythmus wiederfinden.

Ein reguliertes Elternteil schafft ein reguliertes Umfeld – und ein reguliertes Umfeld ist gerade bei Neurodermitis einer der stärksten heilsamen Faktoren. Kinder brauchen Nähe, aber sie brauchen genauso den Raum, ein eigenes inneres Gleichgewicht zu entwickeln. Und Eltern brauchen Erlaubnis: die Erlaubnis, gut genug zu sein.

Teile diesen Beitrag

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Beiträge gefallen dir sicher auch: