Salutogenese versus Pathogenese

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Der Begriff Salutogenese wurde in den 1970er Jahren von dem israelischen Soziologen und Stressforscher Aaron Antonovsky geprägt. Wörtlich übersetzt bedeutet er „Entstehung von Gesundheit“. Schon in dieser Wortschöpfung liegt ein Perspektivwechsel. Sie stellt dem medizinisch dominierenden Konzept der Pathogenese – also der Entstehung und Behandlung von Krankheit – eine komplementäre Sicht gegenüber. Antonovsky betonte, dass beide Konzepte ihre Berechtigung haben, aber dass die ausschließliche Konzentration auf Krankheit den Blick auf wesentliche Zusammenhänge verstellt.

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit

Die traditionelle Medizin folgt dem pathogenetischen Modell. Sie fragt: Was macht krank? und Wie lässt sich Krankheit beseitigen oder eindämmen? Diese Sichtweise hat zweifellos Erfolge hervorgebracht. Doch sie bleibt auf die Funktionswiederherstellung des Körpers beschränkt.

Das Kind mit Neurodermitis wird dabei als Träger von Symptomen gesehen – als Haut, die behandelt werden muss. Die Krankheit wird gemessen, beschrieben und bekämpft. Doch die Frage, was Gesundheit stärkt, bleibt unbeantwortet. Das Wesen des Kindes, seine Geschichte, seine Familie, seine seelischen Bedürfnisse – sie bleiben außerhalb des Fokus.

Gesundheit wird in diesem Denken als Abwesenheit von Krankheit definiert. Ein leerer Zustand. Antonovsky erkannte, dass dadurch ein großer Teil des menschlichen Heilungspotenzials ungenutzt bleibt. Er entwickelte daher das Modell der Salutogenese, das den Blick weitet und fragt: Was erhält Menschen gesund – trotz Belastung, trotz Krankheit, trotz widriger Umstände?

Das Leben als Fluss

Antonovsky beschreibt sein Modell mit einer eindrucksvollen Metapher: Das Leben ist ein Fluss.
Wir alle bewegen uns darin, schwimmend, manchmal kraftvoll, manchmal mühsam. Der Fluss verändert seine Richtung, wird schneller, ruhiger, gefährlicher. Strudel tauchen auf, Hindernisse zwingen zu Entscheidungen.

Die klassische Medizin versteht ihre Aufgabe darin, den Menschen zu retten, wenn er zu ertrinken droht. Sie zieht ihn ans Ufer, stabilisiert ihn, stellt die Funktionen wieder her. Doch sobald der Mensch zurück in den Strom gelangt, steht er denselben Gefahren erneut gegenüber.

Antonovsky stellte eine andere Frage: Wie kann der Mensch lernen, besser zu schwimmen?
Salutogenese bedeutet, die Fähigkeit zu fördern, mit den Bedingungen des Lebens umzugehen. Es geht nicht darum, den Fluss zu verändern, sondern die eigene Beweglichkeit zu stärken.

Übertragen auf ein Kind mit Neurodermitis bedeutet das: Nicht allein die Haut steht im Zentrum, sondern die Frage, was das Kind befähigt, inmitten der Herausforderungen gesund zu bleiben. Welche Ressourcen stärken es? Welche inneren und äußeren Bedingungen helfen ihm, sich zu regulieren? Das Ziel ist nicht nur Symptomfreiheit, sondern eine Haltung, die Gesundheit hervorbringt.

Von der Diagnose zur Entwicklung

In der schulmedizinischen Sichtweise schließen sich Gesundheit und Krankheit aus. Entweder man ist gesund oder krank. Eine Diagnose fixiert diesen Zustand und legt ihn fest. Für Eltern bedeutet das oft: Unser Kind ist chronisch krank.
Diese Festschreibung kann unbewusst zur inneren Wahrheit werden. Sie nimmt Hoffnung, reduziert Handlungsspielräume und prägt das Selbstbild des Kindes.

Antonovsky schlägt einen anderen Blick vor. Für ihn existieren Gesundheit und Krankheit nicht als Gegensätze, sondern als Pole eines Kontinuums. Jeder Mensch bewegt sich zwischen ihnen, mal näher an der Krankheit, mal näher an der Gesundheit. Dieser Bewegungsspielraum eröffnet Möglichkeiten.

Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der sich ständig verändert. Menschen sind nie vollständig krank oder gesund, sondern immer beides – in unterschiedlicher Gewichtung. Diese Sicht entlastet und ermutigt zugleich. Sie lädt dazu ein, sich zu fragen: Was kann ich tun, um mich und mein Kind näher in Richtung Gesundheit zu bewegen?

Die drei Dimensionen der Salutogenese

Antonovsky sah Gesundheit als Ergebnis des Zusammenspiels von drei Systemen:
– dem physischen Körper
– der psychischen Struktur
– dem sozialen Umfeld

Diese Ebenen stehen in ständiger Wechselwirkung. Körperliche Symptome sind nie isoliert. Sie entstehen in einem Beziehungsfeld, in dem Emotionen, Wahrnehmungen und soziale Dynamiken mitschwingen.

Für Eltern bedeutet das: Die Art, wie sie auf die Erkrankung reagieren, wie sie mit dem Kind sprechen, wie sie Hoffnung oder Ohnmacht ausdrücken, wirkt auf das System zurück. Beziehung wird zu Biologie. Kommunikation zu Regulation.

So entsteht ein Raum, in dem Gesundheit entstehen kann – nicht durch Kontrolle, sondern durch Bewusstheit und Resonanz.

Die Leitfrage der Salutogenese

Im Denken der Salutogenese verschiebt sich die Leitfrage von
„Wie vermeiden wir Krankheit?“
zu
„Wie fördern wir Gesundheit?“

Für Eltern eines neurodermitiskranken Kindes heißt das, den Blick auf das zu richten, was funktioniert. Nicht nur auf die Symptome, sondern auf die Ressourcen des Kindes: seine Kreativität, seine Spielfreude, seine soziale Offenheit, seine Fähigkeit zu lachen, sich zu erholen, zu vertrauen.

Gesundheitsförderung bedeutet, diese Aspekte zu nähren. Es bedeutet, eine Umgebung zu schaffen, in der das Kind sich sicher fühlt, in der seine Bedürfnisse wahrgenommen werden, in der es erleben kann, dass sein Körper nicht nur Quelle von Schmerz ist, sondern auch von Kraft, Bewegung und Lebendigkeit.

Das ist keine romantische Sicht, sondern neurobiologisch fundiert. Positive Resonanz aktiviert das parasympathische Nervensystem, senkt den Cortisolspiegel, stärkt die Immunfunktion und verbessert die Hautregeneration.

Gesundheit ist ein Systemeffekt – sie entsteht, wenn Körper, Psyche und Beziehung im Gleichklang schwingen.

Gesundheit als Haltung

Antonovskys Ansatz führt uns zu einem einfachen, aber tiefen Gedanken: Gesundheit entsteht, wo Sinn, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit erfahrbar sind. Diese drei Dimensionen bilden das sogenannte Kohärenzgefühl.
Ein Mensch, der versteht, was mit ihm geschieht, der Sinn darin sieht und Möglichkeiten erlebt, Einfluss zu nehmen, bleibt auch in Krisen stabiler.

Für Eltern bedeutet das: Wenn sie begreifen, wie Körper, Psyche und Beziehung miteinander wirken, und wenn sie erleben, dass ihr Handeln einen Unterschied macht, entsteht Kohärenz. Diese Erfahrung überträgt sich auf das Kind.

Das Ziel ist also nicht, Krankheit zu verdrängen, sondern einen inneren Zustand zu kultivieren, in dem Gesundheit wachsen kann – als Prozess, als Bewegung, als Haltung dem Leben gegenüber.

Die entscheidende Wendung

Gesundheit ist kein Ziel am Ende eines Weges. Sie ist der Weg selbst.
Sie entsteht im alltäglichen Handeln, im Denken, im Fühlen, im Miteinander.

Eltern können diesen Weg mitgestalten. Indem sie fragen:
Was stärkt uns?
Was bringt uns in Kontakt?
Was lässt uns atmen, trotz allem?

So beginnt Salutogenese: nicht in der Abwehr des Schmerzes, sondern im Vertrauen in die Fähigkeit, gesund zu leben, mitten im Fluss des Lebens.

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